Internationaler
Karlspreis der Stadt Aachen an S.M.K. Juan Carlos I.
Der
Text der überreichten Urkunde lautet:
Am Himmelfahrtstag, dem 20. Mai 1982, wurde im Krönungssaal des
Aachener Rathauses, der ehemaligen Kaiserpfalz, der Internationale
Karlspreis für das Jahr 1982 an Seine Majestät König
Juan Carlos I verliehen in Würdigung seines entschiedenen Wirkens
um ein in Gemeinschaft mit Spanien geeintes Europa und sein kraftvolles
und mutiges Eintreten für die den Kontinent tragenden Prinzipien
der Gerechtigkeit und Freiheit.
Der
Text der Juan Carlos I. überreichten Medaille lautet:
Für Einheit und Menschenwürde
Der Festakt zur Preisverleihung fand am 20. Mai 1982 in Aachen statt.
Anlässlich
der Preisüberreichung wurde von König Juan Carlos I. von
Spanien folgende Rede gehalten:
"Es ist für
mich, einen europäischen König, eine grosse Ehre, den Karlspreis
entgegenzunehmen, einen Preis, der zur Erinnerung an den ersten Monarchen
geschaffen wurde, der von der Kaiserkrone Europas träumte.
Unter den hervorragenden Persönlichkeiten in dieser Auszeichnung,
denen vor mir diese Ehre zuteil geworden ist und die damit auch den
Karlspreis ehrten, befinden sich Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad
Adenauer, Winston Churchill und Robert Schumann.
Ihr ganzes Denken und ihre ganze Willenskraft wussten sie für
ein gemeinsames Werk einzusetzen: der Schöpfung eines vereinigten
Europas.
Europa wird zur historischen Wirklichkeit auf Grund einer der weitreichendsten
Entwicklungen im Mittelalter: der Teilung des Mittelmeerbeckens, Wiege
und Kultur des Altertums, durch den Einbruch des Islams im siebenten
und zu Anfang des achten Jahrhunderts. Das Mittelmeer ist nicht mehr
das Maare Nostrum; es teilt sich in das Meer der Christen und das
der Muselmanen. Das christliche Ufer sieht sich isoliert von einem
Afrika, das die Ptolomäer, Philon oder der heilige Augustinus
hellenisierten, romanisierten und christianisierten. Und Europa wird
zu seinem Hinterland.
Romanisch und germanisch zugleich wird sich Europa aus diesem Anfang,
seiner Stunde der Geburt, entwickeln. Die von Invasionen zersplitterte
Romania verbindet sich mit einer Germania, die sich mit ihr zum Träger
einer gemeinsamen Geschichte vereint.
Jahrhundertelang ist die Wiedererstehung des Römischen Reiches
unter deutlich germanischen und selbstverständlich christlichen
Vorzeichen der politische Traum: das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation. Aber was in Wahrheit geschaffen wird, ist etwas anderes: Europa.
In dieser berühmten Stadt gibt der grosse Karl im Jahre 800 den
Anstoss zur Grundsteinlegung der europäischen Gemeinschaft, die
sich so oft zerstritten und bekämpft, aber doch immer wieder
zueinandergefunden hat. "L'Europe n'est pas qu'une nation composée
de plusieurs", sollte Montesquieu eines Tages sagen; und Blazac
sprach von "La grande famille continentale, dont tous les efforts
tendent à je ne sais quel mystère de civilisation";
während der Spanier Antonio de Capmany 1773 meinte: Toda la Europa
es una escuela general de civilizaciòn".
Und es ist gerade hier, wo mir der Karlspreis verliehen wird, in dieser
alten, zutiefst europäischen Stadt, die in fast allen unseren
Sprachen ihren Namen hat: Aquigranum hiess sie auf lateinisch, eine
Bezeichnung, die auf spanisch mit Aquisgràn und auf italienisch
mit Aquisgrana weiterlebt; für die Franzosen und Engländer
ist sie Aix-la-Chapelle; aber Aachen für die Deutschen und Aken
für die Holländer.
Für mich als König von Spanien ist es besonders bewegend,
in Aachen geehrt zu werden, war es doch hier, wo mein Vorfahr und
Vorgänger als Träger der spanischen Krone, Karl I., 1520
zum Kaiser gekrönt wurde, eine Würde, durch die er später
auch als Karl V. in die Geschichte einging.
Aus tiefstem Dank für die Ehre, die mir durch die Verleihung
des Preises erwiesen wird, der den Namen eines so fernen Gründers
Europas trägt, sei es mir erlaubt, den Namen meines entfernten
Grossvaters mit diesem Preis in Verbindung zu bringen. Denn auch er
gehört zu den Schöpfern dieser grossen Völkergemeinschaft
und trug in ganz ausserordentlichem Masse dazu bei, den Einfluss Europas
über die Weltmeere hinweg zu verbreiten und die Geschichte und
Politik des Westens mitzugestalten. Es ist jener andere Karl, unter
dessen Regierung der Mensch die Erdkugel im wahren Sinne des Wortes
in Besitz nahm als Elcano sie zum ersten mal in der Geschichte umsegelte.
Die Länder Europas sind Teile eines Ganzen, das wichtiger ist
als jedes einzelne für sich allein, und die Substanz, die allen
gemein ist, entstammt dem gleichen Nährboden.
Trotz Zersplitterung, Privatinteressen, Rivalitäten und Machtkämpfen
haben die europäischen Elemente dennoch als Faktoren der Einheit
und Annäherung gewirkt: das christliche Erbe, die Erinnerung
an Rom und seine Einheit, seine Weltsprache als Kultur- und Liturgieträger,
das römische Recht und der Sinn für Autorität jenseits
von Gewalt, der Drang nach individueller Freiheit und persönlicher
Loyalität als germanischer Beitrag aus dem Mittelalter.
Auf der Basis dieser Prinzipien hat sich Europa jahrhundertelang mit
dem Islam auseinandergesetzt, manchmal auf friedfertige Art und zuweilen
im Kampf. Es vereinigte in sich nicht nur die jüdische Tradition
des Christentums, sondern auch die Präsenz stimulierender jüdischer
Kräfte, die manchmal als fruchtbar Bejahung fanden oder auch
abgelehnt wurden.
Zu diesem latinisierten Europa findet sich nun jenes andere, das griechisch
und bei den slawischen Völkern zu suchen ist und welches sich
auf Grund theologischer oder politischer Spaltung so oft vom restlichen
Teil losgesagt hat, aber dennoch von allen echten Europäern als
integraler Bestandteil angesehen wird.
Im Laufe der europäischen Geschichte sind die Monarchien ein
Faktor der Einigung gewesen. Sie sind nicht nur der Auflösung
der Kleinstmächte Herr geworden, sondern haben auch persönliche
Verbindungen unter den von ihren Königen vertretenen Völkern
hergestellt. Und durch die Heirat von Mitgliedern regierender Familien
wurden Bande zwischen Ländern geknüpft, die voneinander
auf Grund der Sprache, der Rasse und der Gebräuche getrennt waren;
sie halfen, die Verschiedenheiten zu überbrücken; und sie
verstärkten das Bewusstsein, eine Einheit zu sein und einer gemeinsamen
Realität anzugehören.
Die Monarchien Europas sind die Schöpfer von "Ces grands
corps que sont les nations", wie es Descartes ausdrückte,
der fortschrittliche Denker des modernen Europa; und wenn man es genau
betrachtet, so haben sie dem zerstörerischen und unbürgerlichen
Geist des Nationalismus gebremst und eingegrenzt.
Die spanische Nation entstand aus einem System aufeinanderfolgender
fruchtvoller Zusammenschlüsse von mittelalterlichen Königreichen,
Prinzipaten oder Grafschaften, wo schliesslich alle spanischen Könige
zur gleichen Familie gehörten, so dass es sehr bald keine fremdländischen
Beziehungen unter ihnen gab. Das ist auch die Erklärung für
die bewundernswerte, doch selten hervorgehobene Tatsache, dass die
christlichen Königreiche im mittelalterlichen Spanien unverhältnismässig
seltener gegeneinander kämpften als die Teile der restlichen
heutigen Nationen Europas.
Das grosse spanische Unternehmen, die Reconquista, gab den Christen
ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und bewirkte, dass sich
ihre Energie auf kriegerischem Gebiet fast ausschliesslich der Zurückgewinnung
des "verlorenen Spaniens", wie es damals hiess, zuwandte.
Das erklärt, warum Spanien als moderne Nation zu einem so frühen
Zeitpunkt entstand, fast ein halbes Jahrhundert vor der Krönung
Karls V. in Aachen.
Als das geschah, konnte Spanien schon auf eine lange Geschichte der
Nation zurückblicken, die eine zweite politische und historische
Erneuerung einschloss: eine Supernation aus einer Völkergemeinschaft,
also gerade das, was die Menschheit heute sucht, um ihre ernsten Probleme
zu bewältigen und die grössten Gefahren abzuwenden.
Die spanische Monarchie wurde bald zur "hispanischen Monarchie",
die verschiedene Länder beider Hemisphären unter derselben
Krone umschloss: es war die erste wirkliche Errungenschaft der westlichen
Welt. So entstand eine Gemeinschaft hispanischer Völker, die
über politische Bindungen hinaus als Sprach-, Kultur-, Traditions-
und Sitteneinheit fortdauert. Dadurch wurde Spanisch zu einer Weltsprache,
in der dreihundert Millionen Menschen verschiedenster Länder
und Rassen schöpferisch zusammenwirken; eine Sprache, die Ihnen
eine geistige Heimat bietet und in der sie eine eigene tausendjährige
Literatur und gemeinsame Geschichte finden. Wäre es sonst verständlich,
daß Karl V., die Würde König von Spanien zu sein über
alles andere stellte, selbst der Kaiserwürde, die er hier erhielt?
Seit sechs Jahren habe ich die Ehre und Verantwortung, jenen Titel
Karls I. zu tragen. Ich fühle mich der Treue zu dieser Tradition
verpflichtet. Ich habe geglaubt, dass es meine Pflicht als König
von Spanien war, die Einheit, Freiheit und Einigkeit aller Spanier
wieder herzustellen.
Im 20. Jahrhundert kann dies nur auf demokratische Weise geschehen,
und ich habe mich darum bemüht, den Vorgang der Verfassungsgebung
für Spanien voranzubringen, damit unserem öffentlichen Leben
eine rechtliche Grundlage gegeben und mein Platz im Dienst meines
Vaterlandes festgelegt werden konnte.
Mit Genugtuung darf ich sagen, dass in kürzester Zeit, ohne Bruch
oder Zwietracht, ohne Ausschliessung oder Vergeltung eine Ordnung
geschaffen wurde, die die Freiheit, das Zusammenleben und den Dialog
sowie die legitime Autorität und die
Bejahung des Pluralismus begründeten und die es erlaubt, weiter
den Weg der Gerechtigkeit zu verfolgen.
Heute bin ich stolz darauf, König von Spanien zu sein: die Ehre,
der erste Diener meines Landes zu sein, wiegt die Arbeit, die Sorgen
oder Risiken auf, die dieses Amt mit sich bringen. Ohne den Frieden
in Frage zu stellen, den Spanien über alles zu schätzen
weiss, nachdem es am eigenen Leib die Qualen der Zwietracht und des
Krieges erfahren hat, hat es der Verlockung, in seinen Strukturen
zu erstarren, nicht nachgegeben und ist nun auf dem Weg zu grossen
Unternehmungen wie der Entwicklung seiner historischen Persönlichkeit,
dem Erhalt seiner schöpferischen Wesensunterschiede, grösserer
Freiheit, dem Streben nach mehr Gerechtigkeit, der Verbreitung einer
Kultur, die in so hohem Masse zur Gestaltung Europas und der ganzen
westlichen Welt beigetragen hat.
Solches kann Spanien nur als europäische Nation vollbringen.
Das aber ist es immer gewesen; seit seinem Bestehen ist es von der
Substanz her europäisch.
Es ist gesagt worden, dass die anderen europäischen Länder
nun eben europäisch sind und nichts anderes sein können,
aber dass Spanien, in das die Muselmanen zu Anfang des 8. Jahrhunderts
einfielen, europäisch ist, weil es aller Vernunft zum Trotz,
so sein wollte und dabei seine lateinische wie christliche Wesensart
nicht verlor wie andere Völker unter den gleichen Voraussetzungen.
Spanien hat an allen Unternehmungen Europas teilgenommen und es ist
fest dazu entschlossen, es auch in Zukunft zu tun. Und wir dürfen
nicht vergessen, dass es darum geht, zusammen ein vereinigtes Europa
aufzubauen, das über die Einigkeit, jener von alters her bestehenden
Einigkeit Europas, hinausgeht.
Auch bei diesem Unterfangen ist Spanien vorangeschritten. Zwei der
bedeutendsten Denker des heutigen Spaniens, José Ortega y Gasset
und Salvador de Madariaga - der auch mit dem Karlspreis ausgezeichnet
wurde - sind intelligente und begeisterte Verteidiger der europäischen
Vereinigung gewesen. In jenem berühmten Buch mit dem Titel "Der
Aufstand der Massen" wurde schon 1930 die Vereinigung Europas
als einzige Lösung der Probleme Europas vorgeschlagen, eine Supernation,
die es zu errichten galt, nämlich die Vereinigten Staaten von
Europa. Und dieser Impuls ist in meinem Land nicht verlorengegangen.
Aber es gibt noch etwas, woran ich erinnere möchte: Spanien,
eine in Europa verwurzelte Nation, ist nicht nur europäisch,
es ist transeuropäisch und von seiner Entstehung her als moderne
Nation ausgelegt: es ist eine hispanische Nation, eines der Mitglieder
- wenngleich das älteste, das ursprünglichste - einer Gemeinschaft
unabhängiger hispanischer Nationen.
Vermindert sich dadurch sein europäisches Wesen? Im Gegenteil,
es wird gestärkt; denn Europa ist transeuropäisch, war immer
so beschaffen, über sich hinauszugehen, auf andere Völker
auszustrahlen und sich ihnen zu erschließen. Ein in sich verschlossenes,
egoistisches, auf andere herabsehendes Europa wäre mit Sicherheit
weniger europäisch. Dadurch, dass es seinem hispanischen Charakter
treu bleibt und den Kontakt mit den spanisch sprechenden Völkern
auf der anderen Seite des Atlantiks konstant aufrechterhält,
sogar mit jenen Gemeinschaften, die diese Sprache auf den anderen
Kontinenten beleben, setzt Spanien seine europäische Wesensart
nicht herab, sondern bejaht und verwirklicht sie auf schöpferische
Weise.
Spanien, und auch sein König, verstehen ihre historischen Pflichten
heute so: den Frieden und das Zusammenleben innerhalb des Landes zu
erhalten und dazu beizutragen, dasselbe auf der ganzen Welt zu verwirklichen.
Grössere Freiheit für Menschen, die sozialen Gruppen, die
autonomen Gemeinschaften und, über unsere Grenzen hinaus, für
die verschiedenen Länder, die unter keinem Vorwand verletzt,
unterdrückt oder überfallen werden dürfen. Verstärkung
der Einheit, aber nicht auf abstrakte Weise und nicht durch Vereinheitlichung,
sondern durch ein Zusammenfügen aller Teile, aus denen diese
reichhaltige, komplexe und mannigfaltige Welt nun einmal besteht.
Wachstum des Wohlstandes durch vernünftige internationale Zusammenarbeit,
wobei der Missbrauch von Bodenschätzen als Waffe zur Erpressung,
Unterdrückung oder Ausbeutung unmöglich gemacht wird. Fortschritte,
bis zur Grenze der jeweils gegebenen Realität, im Sinne der Gerechtigkeit,
einer wachsenden Teilhabe an den Gütern, die die Menschheit besitzt.
Dies wäre zur Stunde das historische Programm Spaniens in groben
Zügen. Man könnte alles mit einem einzigen Wort zusammenfassen:
Freundschaft.
Zum ersten Mal seit langer Zeit glauben wir, dass die Spanier sich
ohne Einschränkungen als Freunde fühlen können. Auf
internationaler Ebene möchte Spanien auf der ganzen Welt nur
Freunde und Verbündete sehen.
Spanien hegt keinen Groll, keine Rachegefühle und keinen Neid,
sein Ehrgeiz ist einzig und allein, sich durch das tatkräftige
Bemühen der Frauen und Männer dieses Landes zu vervollkommnen.
Es ist willens, würde- und wirkungsvoll an den grossen sich ergänzenden
und zu unserer Zeit wechselseitig notwendigen Aufgaben mitzuschaffen
und teilzunehmen: die Aufgaben, die uns die westliche Welt, Europa
und die hispanische Welt stellen.
Und von diesen grossen Einheiten aus, hin zur Annäherung an das
Ideal einer Welt, in der alle Menschen, ohne ihren eigenen Charakter
aufgeben zu müssen und ihre Individualität zu verlieren,
brüderlich zusammenleben, in Frieden.
Wenn ich hierzu etwas während meiner Regierungszeit beitrage,
denke ich, dass ich am Ende den Karlspreis verdient haben könnte.
Da er mir schon heute vorweggenommen wird, möchte ich noch einmal
meinen bescheidenen Dank aussprechen."